Die beiden traurigen Gedenktage zu 10 Jahre Fukushima und 35 Jahre Tschernobyl nimmt die WUA zum Anlass, um über einige andere – nicht so bekannte - verheerende Unfälle der Nukleargeschichte zu berichten.

Teil 4: Lucens (Waadt, CH), 1969

Die Schweiz war kurz nach dem zweiten Weltkrieg in den Wettlauf um die Nukleartechnologie eingestiegen. Man wollte sowohl Kernkraftwerke für die Stromerzeugung nutzen als auch die nukleare Bewaffnung der Schweizer Armee vorantreiben. Bereits 1945 wurde von der Armee die Studienkommission für Atomenergie ins Leben gerufen. Der Studienkommission gehörten sowohl alle bedeutenden Forschungseinrichtungen der Schweiz an, aber auch Industrieunternehmen wie etwa Brown und Boveri & Cie. Den ersten Versuchsreaktor erwarb man 1955 nach einer Vorführung bei der Genfer Atomkonferenz günstig von den USA. Mittels dieses Reaktors wurden in der Folge auch etwa 20 Kilogramm Plutonium für die Schweizer Bombe hergestellt.

Im Jahr 1962 erfolgte dann der Spatenstich für den Versuchsreaktor in Lucens, einer kleinen Ortschaft im Schweizer Kanton Waadt. Bei dem Reaktor handelte es sich um eine eigene Entwicklung der von der Studienkommission für Atomenergie beauftragten Reaktor AG, dem späteren Paul-Scherrer-Institut. Ob der in Lucens gebaute Reaktor sowohl für die militärische als auch zivile Nutzung dienen sollte ist umstritten. Technische Spezifikationen des in Lucens errichteten Reaktors sprechen eher gegen diese Theorie. Das Versuchsatomkraftwerk Lucens (VAKL) ist für den Betrieb mit Natururan ausgelegt, auch wenn die tatsächlich realisierte Anlage auf Grund ihrer geringen Größe, und damit ungünstigeren Geometrie, mit leicht angereichertem Brennstoff betrieben wird. Als Moderator wird schweres Wasser verwendet, dessen Herstellung in der Schweiz selbst problemlos möglich ist. Als Kühlmittel verwendet man CO2, weil die Druckhaltung leichter zu realisieren ist und der Reaktor bei höheren Temperaturen betrieben werden kann. Die Errichtung soll glücklicherweise wie alle bedeutenden Einrichtungen in der Schweiz, in einer Kaverne erfolgen. Einerseits bildet das umliegende Gestein ein natürlicher Containment, andererseits soll der poröse Fels im Fall des Unfalls die radioaktiven Stoffe absorbieren.

1968 im Mai wird der fertige Reaktor der Energie Ouest Suisse übergeben und geht in Betrieb. Die Bauzeit ist den obligatorischen Schwierigkeiten geschuldet. Unter anderem hat das Gestein vor Ort nicht nur Vorteile, sondern zeichnet sich auch durch Wassereinbrüche aus, denen man mit Drainagierungen Herr werden muss. Auch werden die geplanten Baukosten, wie es bei Atomkraftwerken zum Standard gezählt werden kann, weit überschritten, was der Bundesrat durch immer weitere Budgetaufstockungen großzügig ausgleicht. Ein Rückschlag für das Projekt war auch der Plan des Energieerzeugers Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK), der heutigen Axpo Power AG, in Beznau einen schlüsselfertigen amerikanischen Leichtwasserreaktor errichten lassen zu wollen. Auch bei der Testung des Brennstoffs haben sich einige Probleme ergeben. Bei einem Test in der Anlage in Würenlingen schmolz ein Brennstab teilweise, genaue Analysen zeigen aber, dass der auslösende Vorgang in Lucens nicht stattfinden kann. Daher wird das Design mit dem Einverständnis der Aufsichtsbehörde unverändert beibehalten. Der Reaktor liefert als erstes Atomkraftwerk der Schweiz mit einer Leistung von 30 MW bis in den November 1968 Strom, dann wird eine Revision durchgeführt.

Am 21. Jänner 1969 geht der Reaktor wieder in Betrieb, im Brennstoffbündel Nummer 59 hat sich, so wird es am Ende im Bericht stehen, Feuchtigkeit angesammelt. Dadurch kommt es zur Korrosion am Brennstoff und es verengt sich der Querschnitt, der für das Durchströmen des Kühlmittels vorgesehen ist. In der Folge erhitzt sich der Brennstoff an dieser Stelle, zuerst schmilzt das Hüllrohr, dann der Brennstoff, schließlich zerbirst die betroffene Druckröhre. Die Schmelze kommt mit dem schweren Wasser in Berührung und verdampft größere Mengen augenblicklich. Schweres Wasser, geschmolzener Brennstoff und radioaktive Gase werden in die Kaverne freigesetzt. Sekunden vor der Zerstörung der Druckröhre hat ein Sensor die Reaktorschnellabschaltung ausgelöst. Die meisten ausgetretenen radioaktiven Stoffe verbleiben im Berg. Was nach außen dringt wird in den umliegenden Dörfern als leichte Erhöhung der Radioaktivität gemessen. Bis 1971 wird die Anlage zerlegt und dekontaminiert. Was nicht entfernt werden kann verbleibt im Berg. Der Stollen wird eingemauert. Nach der INES Skala, die es zu dieser Zeit noch nicht gibt, wäre der Unfall mit 4 bis 5 zu bewerten.

Den Ambitionen der Schweiz in Bezug auf die Atomenergie tut der Vorfall keinen Abbruch. Fünf Leistungsreaktoren wird man errichten, keine Eigenentwicklungen, sondern eingekaufte Anlagen.

Anfang der 1970-er Jahre gibt es die ersten öffentlichen Proteste gegen die Errichtung eines KKWs nahe Basel. 1977 ratifiziert die Schweiz den Atomwaffensperrvertrag und verzichtet vorläufig auf ein eigenes Atomwaffenprogramm. 1990 wird in einem Volksentscheid für ein 10-jähriges Moratorium für die Errichtung von KKW in der Schweiz gestimmt. 1995 beschließt die Schweiz die unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags. 2017 ist das Referendum zur Energiestrategie 2050 erfolgreich, die Schweiz wird keine neuen KKW errichten und die bestehenden Anlagen schrittweise stilllegen.

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