Immer wieder wird Kernenergie von Vertretern der Atomindustrie und von Staaten, welche diese Energieproduktion aufrecht erhalten wollen, als (unverzichtbarer Teil der) Lösung im Kampf gegen die Erderhitzung präsentiert. Befürworter der Kernenergie führen zur Unterstützung ihrer These häufig die folgenden Behauptungen an: Kernenergie sei CO2-arm, (zumindest wie erneuerbare Energieträger) sie sei billig und unverzichtbar für die Sicherheit der Energieversorgung.

Die Stadt Wien beschäftigt sich mit diesen von der Atomindustrie aufgestellten Thesen bereits seit vielen Jahren. Die WUA als Atomschutzbeauftragte der Stadt Wien hat sich in den vergangenen Jahren intensiv und in zahlreichen Kooperationen mit diesen Themenfeldern auseinandergesetzt. In Zusammenarbeit mit internationalen Partnern, dem Institut für Sicherheits- und Risikoforschung der Universität für Bodenkultur und der Technischen Universität Wien wurde die Haltbarkeit der Thesen von der unverzichtbaren Kernenergie in Zeiten der Klimaerhitzung überprüft.

Argument CO2-Bilanz
Argument geringe Kosten der Kernenergie
Argument Stabilität der Netze
Anteil der Kernernergie an der Strom- und Energieversorung insgesamt
Zeitkomponente: Tatsächlich kein Einsatz von Kernenergie zum Klimaschutz möglich
Gefahr „Hintertüren“ für die Kernenergie
Dauerhafte Risiken der Kernenergie sind aufrecht

Argument CO2-Bilanz

Die CO2-Bilanz der Kernenergiegewinnung muss umfassend berechnet werden, denn, wie bei allen komplexen Vorgängen werden vorlaufende und nachher notwendige Prozesse nur allzu gerne vergessen. Die Studie „Energiebilanz der Nuklearindustrie“ widmet sich dieser Fragestellung in großer Tiefe unter Einbeziehung aller Faktoren. Studie “Energy Balance of Nuclear Power Generation”

Nach ausführlicher Analyse des Lebenszyklus und unter Einschluss der Brennstoffgewinnung und Herstellung (Uranerzgewinnung, Aufbereitung und Anreicherung, Herstellung der Brennstäbe, Entsorgung, Lagerung, Wiederaufbereitung, Endlagerung) wurde festgestellt, dass die Treibhausgasemissionen pro gewonnener Stromeinheit etwas über jenen von erneuerbaren Energieträgern liegen, jedoch niedriger als solche aus Gaskraftwerken sind.

Während bei der Stromerzeugung im Kraftwerk selbst praktisch keine Treibhausgase entstehen, schlägt sich besonders die Uranerzgewinnung auf die CO2-Bilanz. Da Kernenergie keine erneuerbare Energiequelle ist, sondern von einem endlichen Energieträger, dem Uran, abhängig ist, steigt die CO2-Bilanz mit dem Aufwand für die Uranerzgewinnung und mit sinkendem Urangehalt der Erzvorkommen. Die Studie ist in der Lage einen Grenzwert des Uranerzgehaltes anzugeben, bei dem für die Gewinnung des Brennstoffs mehr Energie aufgewendet werden muss, als dann durch Kernspaltung gewonnen werden kann. Folgt man der Abschätzung der IAEA zu den technisch und wirtschaftlich abbaubaren Uranvorkommen, aus dem sogenannten „Red Book“, erkennt man rasch, dass alle als bekannt und vermutet angeführten Vorkommen, bei gleichbleibendem Bedarf, noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts aufgebraucht sein werden.

Die Kombination dieser Erkenntnisse führt zu zwei Schlüssen:

  • Die Treibhausgasemissionen der Kernenergie werden in den kommenden Jahren, auf Grund der sinkenden Uranerzgehalte in den Minen, unweigerlich wesentlich ansteigen.
  • Bei gleichbleibendem Bedarf, also ohne Ausbau der Stromerzeugung aus Kernenergie, werden heute errichtete Atomkraftwerke über keinen technisch und wirtschaftlich sinnvoll hergestellten Brennstoff verfügen können.

Argument geringe Kosten der Kernenergie

Die Kosten der Kernenergie liegen, was die Vergangenheit betrifft, nur in sehr fragwürdiger Qualität vor. Das ist dem Umstand geschuldet, dass es für lange Zeit keine privatwirtschaftlich finanzierten AKW gegeben hat. Die Projekte waren staatlich finanziert und fielen zumeist in den Bereich der nationalen Sicherheit, wenn sie nicht sogar eng mit den militärischen Projekten der jeweiligen Staaten im Zusammenhang standen. Anlässlich der Diskussion über die Förderungen in Zusammenhang mit der Errichtung des AKW Hinkley Point C in Großbritannien, hat sich die WUA intensiv dem Thema Kosten gewidmet. Die Möglichkeit über tatsächliche Kosten, Aussagen treffen zu können, ist im Wesentlichen der Liberalisierung der europäischen Strommärkte und der Privatisierung und Ausgliederung vieler vormals staatlicher Energieversorger geschuldet. So wurden aus den Verhandlungen der „Contracts for Differences“ für Hinkley Point C (GB), den Errichtungskosten für Olkiluoto 4 (Finnland) und Flammanville 3 (Frankreich) erstmals in der Geschichte die tatsächlichen Kosten von Atomkraftwerken ersichtlich. Die Kosten in der Höhe von über 10 Milliarden Euro für einen Reaktorblock brachten auch die Errichter in Schwierigkeiten, die in ihren Kalkulationen von weniger als ein Fünftel der tatsächlichen Kosten ausgegangen waren. Die Erkenntnisse sind in die Studie „Erneuerbare Energien versus Kernenergie – ein Vergleich der Förderanreize“ eingeflossen und haben diese in gewisser Weise erst ermöglicht. Studie „Renewable energy versus nuclear power, summary"

Die Studie, die auch das Interesse des Umweltausschusses des Parlaments in London auf sich gezogen hatte und von der WUA und den Studienautoren vor diesem präsentiert wurde, behandelt die Frage, aus welchen Technologien bei gleichem Einsatz von Geldmitteln die größte Menge Strom produziert werden kann. Dabei wurden als Rahmenbedingung die tatsächlich in Kraft befindlichen Förderregime der betrachteten Staaten herangezogen. Die Antwort in diesem Bereich ist mehr als eindeutig. Unabhängig von den betrachteten Förderregimen, ist die Kernenergie in keinem einzigen Fall die günstigste Variante. Die als Kostenreferenz betrachteten AKW-Projekte waren und sind nicht fertiggestellt. Seit der Erstellung der Studie sind bei allen betrachteten Projekten die Gesamtkosten noch weiter gestiegen. In der gleichen Zeit sind die Kosten für alle betrachteten erneuerbaren Energieträger, teils drastisch, gesunken. Damit hat sich das Bild der Gesamtkosten weiter zu Ungunsten der Kernenergie und zu Gunsten der Erneuerbaren verschoben.

Argument Stabilität der Netze

Ohne die Kernenergie seien die Stromnetze nicht stabil zu betreiben, lautet ein gewichtiges Argument; Kernenergie könne in dieser Hinsicht nur durch CO2-intensivere fossile Großkraftwerke ersetzt werden. Die Vorzüge der Kernenergie seien in der verlässlichen Grundlast zu sehen. Beide Behauptungen, die der Verlässlichkeit und die der notwendigen Grundlast, sind, wie eine kurze Betrachtung zeigt, falsch.

Zunächst zur Verlässlichkeit: Wie Betriebsdaten zeigen, kommt es in jeder in Europa betriebenen Anlage im Schnitt einmal im Jahr zu einem sogenannten Scram, einer automatischen Schnellabschaltung, zuletzt etwa im KKW Krsko nach dem Erdbeben im Dezember 2020. Innerhalb von Sekunden geht dabei, völlig unvorhergesehen, die gesamte Leistung des Reaktors vom Netz. Das sind, bei den in Europa in Betrieb befindlichen Reaktoren von 400 bis über 1000 Megawatt elektrischer Leistung, die plötzlich im Netz fehlen. Der Ausfall kann dann nach dem auslösenden Vorfall Stunden, Tage oder Monate dauern. Atomkraftwerke sind neben internen Problemen anfällig für die Folgen der Klimaerhitzung. Mit den zunehmend heißen und trockenen Sommern kann vermehrt die Kühlung nicht mehr gewährleistet werden, zum Beispiel wegen niederen Wasserständen an jenen Flüssen, aus welchen das Kühlwasser entnommen wird. So mussten in der Vergangenheit, etwa besonders zahlreich im Sommer 2018, die Leistung französischer und deutscher AKWs gedrosselt werden und es kam auch zu Abschaltungen.

Die WUA hat aktuell zu diesem Thema ein laufendes Projekt mit dem Österreichischen Ökologie Institut und ungarischen Partnern zu der Situation der Donau am Standort des ungarischen KKW Paks.

Was die Notwendigkeit der Grundlast aus AKWs betrifft, sind sich AKW und Solar- und Windenergie sehr ähnlich, beide verfügen über keine wesentlichen Möglichkeiten zur Regelung der Leistung. KKW können, will man nicht die Anlage einer beschleunigten Alterung aussetzen, nur in einem schmalen Band um die Nominalleistung reguliert werden. Sonne und Wind können nur vorhergesagt nicht aber beeinflusst werden. Wasser und Biomasse stellen im Bereich der Erneuerbaren regulierbare Quellen dar. Wenn also ein Energiesystem der Zukunft eine Ergänzung benötigt, dann zur Abdeckung von kurzen Zeiten, erhöhten Bedarfs oder von kurzen Zeiten, in denen zu wenige Erneuerbare zur Verfügung stehen. Also alles außer praktisch nicht regelbare Grundlastkraftwerke.

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Grundlastkraftwerke erhöhen in einem von erneuerbaren Quellen geprägtem Stromnetz die Belastung des Systems, an statt ihr entgegen zu wirken. Der regelmäßig stattfindende, unvorhergesehene Ausfall großer Erzeugungseinheiten wie AKW es sind, erfordert die ständige Bereitstellung großer, schnell verfügbarer Ersatzkapazitäten. Da bei den erneuerbaren Energieträgern grundsätzlich kleine Teileinheiten ausfallen und die systembedingte Nichtverfügbarkeit (Dunkelheit, Flaute, ...) gut vorhersagbar ist, kann die Bereitstellung von Ersatzkapazitäten in ökonomischer Weise erfolgen.

Anteil der Kernenergie an der Strom- und Energieversorgung insgesamt

Gerne wird darauf verwiesen, dass Kernenergie einen wesentlichen Anteil zur CO2-armen Energieversorgung leistet. Dies mag für einzelne Länder zutreffend sein, ist aber global zu relativieren. Derzeit beträgt der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromerzeugung etwa 10 Prozent ihr Anteil an der Gesamtenergie etwas über 2 Prozent. Nur 31 der fast 200 Staaten betreiben Kernkraftwerke. In nur 13 Staaten hat die Kernenergie 2019 mehr als ein Viertel zur Stromproduktion beigetragen. Der Anteil der Kernenergie an der Energieproduktion sinkt, auf Grund des steigenden Gesamtverbrauchs, mangels substanzieller Neubauten und der Abschaltung von Altanlagen ständig.

Zeitkomponente: Tatsächlich kein Einsatz von Kernenergie zum Klimaschutz möglich

Die Ziele des Klimaschutzes, die sich aus den Notwendigkeiten eines sowohl raschen, als auch umfassenden Handels zur Erreichen des 2° C- respektive des 1,5° C-Zieles ergeben, sehen eine Dekarbonisierung bis zum Jahr 2050 (weitgehend 2040) vor. Die AKW in Europa sind derzeit im Durchschnitt älter als 30 Jahre und müssen realistischer Weise bis 2050 zu einem großen Teil außer Betrieb gesetzt werden. Bei den derzeit seit über 10 Jahren in Bau befindlichen neuen Reaktoren in Europa, wird eine Inbetriebnahme Mitte des aktuellen Jahrzehnts angegeben. Betrachtet man diese aktuellen Bauzeiten und die historische Entwicklung der Bauzeiten, der aus Sicherheitsgründen immer komplizierter werdenden Anlagen, kann man davon ausgehen, dass in diesem Jahr begonnene Reaktorbaustellen nicht vor der zweiten Hälfte der 2035-Jahre in Betrieb gehen werden. Sollte also Kernenergie je in der Lage gewesen sein einen messbaren Beitrag zur Verbesserung der Treibhausgasbilanz zur Umsetzung, der für die Menschheit existenziell notwendigen Klimaziele, zu leisten, wird sie jedenfalls zu langsam sein.

Im schlimmsten Fall werden durch den Versuch des massiven Ausbaus der Kernenergie so viele Mitteln gebunden, dass ein Erreichen der Klimaziele, in dem uns verbleibenden Zeitfenster, unmöglich wird.

Die WUA hat in den vergangenen Jahren die Zeit genützt, um im Atombereich belastbare Aussagen treffen zu können und diese auch abseits von wissenschaftlichen Studien zur Verfügung zu stellen etwa in „Facts on Alternatives. Benefits of Renewables versus Nuclear. Argumentarium“ (2019). Die WUA sorgt sowohl in der Zusammenarbeit mit der Politik in Wien, als auch mit den Bundesländern und den Partnern in Internationalen Netzwerken für die Vermittlung dieser Erkenntnisse. Sei es durch die Rolle als Expertin gegenüber dem österreichischen, dem europäischen Parlament oder in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen NGOs sowie der interessierten Bevölkerung.

Gefahr „Hintertüren“ für die Kernenergie

Klar ist jedenfalls, dass es gerade in Hinblick auf die gegenwärtige europäische Weichenstellung zu einer klimagerechten Zukunft unserer Gesellschaft (Green Deal, Taxonomie-Verordnung, 2050(2040)-Ziele, ...), nicht zu einer Rückkehr der Kernenergie durch die Hintertüre, etwa im Zusammenhang mit Wasserstofftechnologien, kommen darf. Viele Staaten in Europa haben das erkannt.

In Deutschland gehen die drei letzten AKW mit Ende des Jahres 2022 außer Betrieb, die Schweiz wird keine neuen AKW mehr errichten, Italien wird nicht mehr in die Kernenergie einsteigen, Frankreich will seine Atomstromerzeugung in einem ersten Schritt um ein Drittel, auf 50 Prozent an der französischen Stromerzeugung, reduzieren. Mehr als die Hälfte der Mitglieder der Union betreiben keine Atomkraftwerke. Das gemeinsame Ziel des Klimaschutzes wird vieler Anstrengungen bedürfen, für Umwege und Zwischenlösungen ist zu wenig Zeit.

Dauerhafte Risiken der Kernenergie sind aufrecht

Und selbst wenn Kernenergie trotz der hier angeführten Argumente irgendeinen Beitrag leisten können sollte, stehen dem die Risiken eines schweren Unfalls wie in Tschernobyl oder Fukushima und das ungelöste Problem der radioaktiven Abfälle und des abgebrannten Brennstoffs entgegen.

Themen bei denen man sich daran erinnern muss, dass Klimaschutz nicht Selbstzweck ist, sondern dazu dient die Lebensgrundlagen für die belebte Natur einschließlich dem Menschen zu schützen. Daher darf keine Maßnahme (weder unter dem Titel Klimaschutz noch unter sonst einem Titel) dieses übergeordnete Ziel konterkarieren.

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