Aufgrund des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine und die damit einhergehenden Lieferengpässe am Energiemarkt wurde deutlich, in welchem Abhängigkeitsverhältnis sich Europa gegenüber Russland befindet. In den letzten Monaten wurden viele Anstrengungen unternommen, um die importierte Gasmenge aus Russland (Reduktion der Abhängigkeit von 40 % auf ~10 %) sowie weitere Ressourcenströme ersetzen zu können.

Insgesamt wurden bis jetzt acht Sanktionspakete vonseiten der EU geschnürt, mit dem Ziel, Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen. Ein Bereich, der von den Sanktionen allerdings noch unberührt geblieben ist, ist die Atomenergie. Dies ist der Fall, obwohl sich die EU auch im Nuklearbereich in einem drastischen Abhängigkeitsverhältnis befindet. Konkret geht es hier um die Konstruktion neuer Reaktoren, die Instandhaltung bestehender Reaktoren, den Import von angereichertem Uran, die Bereitstellung von Brennstäben oder die Produktion von Ersatzkomponenten. 

Einige Mitgliedsstaaten der EU, darunter Polen und die baltischen Staaten, setzen sich dafür ein, dass auch nukleare Leistungen sanktioniert werden. Auch das Europaparlament hat in einer Resolution gefordert, Brennstäbe aus russischer Produktion zu verbieten. Allerdings ist von mehreren Mitgliedsstaaten zu vernehmen, dass Sanktionen in diesem Bereich nicht oder nur in geringem Umfang möglich sind.

Russische Bauweise in Europa

Auch die vorliegende, von der Wiener Umweltanwaltschaft finanzierte Studie „Russian Grip on EU Nuclear Power“ von Patricia Lorenz kommt zu der Erkenntnis, dass ein kompletter Verzicht auf russische Produkte und Dienstleistungen im Nuklearbereich kurz und mittelfristig nicht zu bewerkstelligen wäre. 37 % aller neuen AKW-Projekte weltweit werden durch das russische Nuklearunternehmen Rosatom durchgeführt. Somit ist Rosatom aktuell der Vorreiter auf dem globalen Atomenergiemarkt. Im Vergleich dazu stammen nur 7 % der neuen Reaktoren aus amerikanischer Produktion. Auch in Europa werden 41 (von insgesamt 133) AKW russischer Bauweise betrieben. Zudem sind drei Reaktoren (Paks 2 sowie Mochovce 3 und 4), aktuell in der Bauphase bzw. der Fertigstellung. Einige Länder haben bereits aktiv versucht, Maßnahmen zu setzen, um die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Finnland war im Begriff ein Kernkraftwerk (WWER-1200 in Chanhikivi) von Rosatom errichten zu lassen, hat das Projekt jedoch aufgrund der russischen Invasion vollständig eingestellt. Auch die Ukraine hat bereits in der Vergangenheit begonnen, Brennstäbe für ihre russischen VVER-1000 Reaktoren von dem amerikanischen Unternehmen Westinghouse produzieren zu lassen. Diese Bestrebungen werden aktuell fortgeführt. Dies ist allerdings nur für die neueren VVER-1000 Reaktorsysteme möglich.

Die Umstellung der Brennstoffe der älteren VVER-440 Reaktoren, die beispielsweise in der Slowakei, Tschechien, Ungarn oder Bulgarien eingesetzt werden, ist mit erheblichen Problemen verbunden. Trotzdem haben sich Betreiberländer dieser Reaktoren zusammengeschlossen und versuchen gemeinsam mit Westinghouse (USA) und Framatome (FRA) eine Lösung zu finden. Allerdings ist nicht klar, wie viel Zeit die Entwicklung neuer Brennstäbe und der Aufbau der notwendigen Produktionskapazitäten in Anspruch nehmen würde. Darüber hinaus gab es bereits ähnliche Bestrebungen in der Vergangenheit, die sich als sehr kostenintensiv und ineffizient herausgestellt haben und deshalb abgebrochen werden mussten. Problematisch ist hierbei auch, dass eine starke Kooperation zwischen Rosatom und dem größten Nuklearunternehmen in Europa, Framatome, existiert. Beispielsweise verwendet Framatome für die Produktion von Brennstäben teilweise angereichertes Uran, das von Rosatom bereitgestellt wird. Das bedeutet, dass der alleinige Umstieg auf westliche Brennstoffe die Abhängigkeit durch Russland nicht entscheidend vermindert.

Ausstieg aus der Atomenergie

Aus Sicht der Wiener Umweltanwaltschaft ist es daher unerlässlich, dass in der EU Maßnahmen im Bereich der Energieeffizienz und erneuerbaren Energieträgern getroffen werden, die einen mittel- und langfristigen Ausstieg aus der Atomenergie erlauben und gleichzeitig die Abhängigkeit des europäischen Energiesystems verringern.

Mehr Informationenen:

Study "Russian Grip on EU Nuclear Power", Report by Patricia Lorenz, May 2022, updated in January 2024

Brief aus Wien: Europas Atomenergiesektor ist stark abhängig von Russland, Rathauskorrespondenz vom 05.03.2022

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