Allgemeines
Das Kernkraftwerk Ignalina befindet sich im östlichen Litauen unweit der russischen Grenze, 130 Kilometer nordöstlich von Vilnius. Der Standort besteht aus gegenwärtig noch einen in Betrieb befindlichen Reaktorblock mit ursprünglich zirka 1500 MW elektrischer Leistung bei 4800 MW thermischer Leistung. Der erste Block wurde Ende 2004 auf Grundlage des EU-Beitritts-Vertrages von Litauen stillgelegt und wird dekommissionert. Die Bauarbeiten für einen 3. Block gleicher Leistung wurden 1985 begonnen und 1989 im Zuge des beginnenden Zerfalls der Sowjetunion eingestellt. Aus Sicherheitsgründen wurde die Produktionleistung des noch laufenden Blocks auf 1300 MW (elektrische Bruttoleistung) reduziert. Am 31.12.2009 wurde das Kraftwerk endgültig abgeschaltet.
Die Reaktoren vom Typ RBMK-1500 sind von sowjetischer Bauart. Sie stellen eine Weiterentwicklung der Reaktorbaulinie von Tschernobyl mit einigen technischen Verbesserungen dar. Die RBMK-Reaktoren sind Druckröhrenblöcke. Sie bestehen aus einer Graphitmatrix als Moderator und schwach angereichertem Uran in Tablettenform. Die Brennstofftabletten befinden sich in etwa fingerdicken Brennstäben, die kreisförmig angeordnete Brennstoffkassetten (Brennelemente) bilden. In jedem der 1661 Brennstoffkanälen befinden sich zwei Brennstoffkassetten. Die Kanäle verlaufen in regelmäßigen Abständen senkrecht durch die Graphitstruktur, die eine Höhe von zirka sieben Metern und einen Durchmesser von 11,8 Meter besitzt. Die thermodynamischen Parameter sind denen des Siedewasserreaktors ähnlich. Das KKW Ignalina entstand aus der sowjetischen Energieplanung für eine größere Region. Auch nach Abschalten des ersten Blocks deckt es noch heute den Strombedarf des Landes Litauen zu etwa zwei Drittel. Entsprechend wichtig wird die Anlage innerhalb der Nation eingestuft. Betreiber ist das Energieministerium. Die Stilllegung von Block 1 war für Litauen ein wirtschaftlicher Einschnitt, der nur durch Kompensationsleistungen der Europäischen Union möglich war. Die Stromversorgung Litauens und der baltischen Staaten ist auch nach der Stilllegung des Kraftwerks in vollem Umfang gewährleistet.
Stromwirtschaft in den baltischen Staaten nach Ignalina
Litauen fürchtet die energetische Abhängigkeit vom mächtigen Nachbarn Russland und dem Ausbleiben von beträchtlichen Deviseneinnahmen aus dem Stromexport und führt Verhandlungen mit anderen baltischen Staaten sowie Polen über die Errichtung von neuen Kernkraftwerkskapazitäten am Standort Ignalina. Mehr noch als durch technologische und wirtschaftliche Erwägungen scheint dieser Schritt politisch motiviert, was auch die Wahl des geplanten Reaktortyps beeinflussen könnte. Gegenüber europäischer und russischer Technologie wird US-amerikanischer Reaktortechnik deshalb bevorzugt. Ob und in welchem Ausmaß ein oder mehrere Reaktorblöcke am Standort Ignalina errichtet werden ist unklar. Als „kleine Variante“ wird der Bau eines ca. 600 MW-Blockes für ca. 2 Milliarden Euro erwogen, andere Optionen sehen die Errichtung von nuklearen Ersatzkapazitäten bis zu 3.600 MW bis 2015 vor. Bis zur Inbetriebnahme sieht sich die baltische Region teils mit Energieengpässen konfrontiert, die erst schrittweise durch die Errichtung von Wärmekraftwerken wie im russischen Kaliningrad gemildert werden, wo ein nicht nukleares 450 MW Kraftwerk entsteht. Gegenwärtig werden in Litauen ca. 13,5 TWh pro Jahr produziert, während der Eigenbededarf bei ca. 9,5 TWh (2006) liegt. Gemessen an der Gesamtproduktion liefert der betriebene Block 2 von Ignalina fast die Hälfte, am Verbrauch gemessen werden 70 % abgedeckt. Aufgrund von Lieferverträgen mit den anderen baltischen Staaten und den Anforderungen der Lastanpassungen sieht sich die baltische Energiewirtschaft dennoch in einer schwierigen Lage.Die Abhängigkeit des litauischen Strommarktes von diesem KKW ist signifikant. Nur Frankreich besitzt einen höheren Anteil an Strom aus Kernenergie.
Wichtige Zahlen im Überblick
Reaktortyp | Leistung (MW elektrisch) | Fertigstellung | Betriebsende | |
---|---|---|---|---|
Block 1 | Druckröhrenreaktor RBMK-1500 |
1.1851 (1.3002, 1.5003) | 1984 | 31.12.2004 |
Block 2 | Druckröhrenreaktor RBMK-1500 |
1.1851 (1.3002, 1.5003) | 1987 | 31.12.2009 |
Block3 | Druckröhrenreaktor RBMK-1500 |
1.5002 | 1989 eingestellt | - |
1Nettoleistung: Netzeinspeisung nach Abzug des Eigenverbrauchs der Anlage
2Bruttoleistung: Inklusive der für den Betrieb notwendigen Leistung
3Ursprüngliche Designbruttoleistung vor der Leistungsreduktion
- Entfernung von Wien (Luftlinie): Zirka 2.000 Kilometer
- Anteil der Anlage an der Stromerzeugung in Litauen: Zirka 74 Prozent (2002)
- Anteil der Stromerzeugung aus Kernenergie in Litauen: Zirka 38 Prozent (2006)
- Abdeckung des Stromverbrauches in Litauen durch die Anlage: 70 Prozent (2006)
- Jahresstromeinspeisung der Anlage: 7,945 TWh (2006)
- Eingespeise Energie bis Juli 2007: zirka 230 TWh
Bisherige schwere Stör- und Zwischenfälle
- Informationen zu Zwischenfällen und Störungen vor 1990 liegen nur mangelhaft vor
- Seit der unabhängigkeit Litauens und der teilweisen Abwanderung russischer Spezialisten wurde ein Anstieg von Betriebsunregelmäßigkeiten verzeichnet, da sowohl die finanzielle als auch die fachgerechte Abdeckung des Betriebs und Wartungsarbeiten nicht mehr im vollen Ausmaß garantiert waren.
- Seit 1992 kam es an den typenbedingt zahlreichen Rohrleitungen mehrfach zum Austreten von Primärkühlmittel durch schadhafte Anschlüsse und Schweißnähte. Ereignissen dieser Art waren zum Teil auch mit radioaktiver Kontamination bestimmter Anlagenteile verbunden.
- 1992 konnte eine schwere Havarie noch rechtzeitig verhindert werden.
- 1994 drohten Terroristen, das Kraftwerk zu sabotieren. Bei der Aktion sollte ein Drahtzieher organisierter Kriminalität freigepresst werden. Seither steht die Anlage unter erhöhtem Objektschutz.
Kritikpunkte und Position der Wiener Umweltanwaltschaft
Kritikpunkte
Die beiden Blöcke von Ignalina wurden nicht mit einem Containment ausgestattet. Bei möglichen Freisetzungen von Radioaktivität innerhalb der Anlage kann daher das Austreten in die Umwelt in bestimmten Fällen nicht verhindert werden. Der Brennstoff befindet sich in abgeschirmten Kanälen. Sie werden einzeln von Kühlwasser durchflossen. Die zahlreichen Rohrverbindungen zum und vom Reaktor bis zu den Hauptsammlern sind anfällig für Schäden und schwer zu überprüfen . Wird ein Kanal nicht ausreichend gekühlt, kommt es zur Zerstörung seiner beiden Brennelemente. Dies kann eine lokale Kernschmelze auslösen.
Da die Neutronen durch Graphit moderiert werden, kann sich die Kettenreaktion bei ungünstigen Betriebsparametern auch ohne Kühlmittel fortsetzen. Dies würde zu einer Überhitzung des Reaktors führen. Damit verbunden ist der positive Dampfblasenkoeffizient, dessen Auswirkungen unter anderem zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl geführt haben. Bezüglich der neutronen-physikalischen Eigenschaften wurden Verbesserungen vorgenommen, die den noch in Betrieb befindlichen Block 2 vor unkontrollierbaren Leistungsexkursionen absichern sollen.
Durch die geringe Leistungsdichte der aktiven Zone ist die geometrische Größe des Reaktors problematisch: Zum Einfahren der Absorberstäbe wird vergleichsweise viel Zeit benötigt. Weiterhin ist das radioaktive Inventar etwa dreimal so groß wie bei einem vergleichbaren Druckwasserreaktor.
Auch im Normalbetrieb werden durch RBMK-Blöcke mehr Radionuklide über Abluft und Kühlwasser abgegeben als bei z. B. Druckwasserreaktoren. Die Dosisbelastung der Bevölkerung in der Umgebung und des Betriebspersonals ist dadurch höher. Aus Zeitgründen wurden beim Bau wesentliche Wartungs- und Sicherheitseinrichtungen weggelassen. Die Dampfseparatoren wurden so platziert, dass sie nur sehr aufwändig ausgetauscht werden können. Der Austausch muss aber im Abstand von einigen Jahren erfolgen, da die Rohrleitungen korrodieren (rosten).
Position der Wiener Umweltanwaltschaft
Es liegt im Interesse der EU und Österreichs, die Gefahren durch einen notgedrungenen Betrieb des Kraftwerks Ignalina zu reduzieren, wie er durch gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen in Litauen vorgegeben ist. Die erfolgte Stilllegung und anschließende Dekommissionierung von Ignalina 1 ist ein Schritt in diese Richtung. Für Block 2 wurde eine Kompromisslösung gefunden, die einerseits einen zeitlich begrenzten Betrieb (bis 2009) ermöglicht und andererseits die Nachrüstung der Anlage garantieret. Parallel dazu ist die Errichtung neuer Kapazitäten vor allem aus erneuerbaren Quellen zur Stromerzeugung zu fördern. Dabei könnte man den gesamten elektrischen Energiehaushalt eines Landes neu gestalten, ohne den hohen Heizbedarf und die zahlreichen sozialen und gesellschaftlichen Probleme aus den Augen zu verlieren. Der angedachte Umstieg auf einen gänzlich anderen Reaktorty (amerikanischer Bauart) stellt ein wesentliches Problem dar, da die vorhandenen Ingenieure und Techniker mit diesen Reaktortypen nicht vertraut sind.
Sicherheitssysteme
Das Kontroll- und Sicherheitssystem ist redundant und in passiver Sicherheitsarchitektur ausgeführt, die grundlegenden Systeme sind vorhanden. Die Reaktorleistung und Leistungsverteilung über die aktive Zone wird mit 211 Borkarbidstäben reguliert. Sie sind einzeln von Servomotoren gesteuert. Die Einfahrdauer der 24 Notabschaltstäbe beträgt maximal 2,5 Sekunden. Eine Vielzahl von Betriebsparametern wird ständig erfasst. Sie können bei Abweichung von den Richtwerten zur Schnellabschaltung des Reaktors führen. Dazu gehören unter anderem:
- Wärmeproduktion in den Brennstoffkanälen
- Reaktorperiode
- Feuchtigkeitsgehalt in den Gasflusssystemen
- Neutronenfluss
Entsprechende Not- und Nachkühlsysteme sind vorhanden. Sie spiegeln allerding anlagenbedingt den technischen Stand der 1980er Jahre wider.
Forderungen der Europäischen Union
Die EU hat im Energiekapitel der Beitrittsverhandlungen, eine verbindliche Abschaltung der beiden Blöcke von Ignalina durchgesetzt. Gleichzeitig war den betroffenen Gremien die schwierige Haushaltslage in Litauen und die große Abhängigkeit des Landes von der Strompoduktion des Werks bekannt. Bewilligte Mittel sollen nach dem Willen Litauens in die Erneuerung des Kraftwerks investiert werden, woran sich auch die deutsche Firma PreussenElektra interessiert zeigt.
Bei einer Abschaltung der Blöcke am 31.12.2004 respektive 2009 entstehen Kosten von insgesamt etwa drei Milliarden Euro für Umstruktierung und Rückbau. Internationale Unterstützung wurde in Höhe von 207 Millionen Euro zugesichert. Weitere 70 Millionen Euro hat die europäische Kommission zugesagt.
Bestrebungen Litauens einen Betrieb über das von der EU vereinbarte Laufzeitende hinaus zu erreichen, werden von dieser wie in anderen Fällen auch entschieden zurück gewiesen.
Verwendete Quellen und Links
- Forschungsprojekt Energiepolitik, Jürgen Sattari
- Ignalinos Atomine Elektrine
- Informationen zur litauischen Energiewirtschaft vom IDCED
- Wichtige Wirtschaftsinidkatoren von Litauen
- Neues KKW Ignalina 3?
- EURATOM findings on Ignalina NPP
- Tabelle zum Energieverbrauch in Europa