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Kritikpunkte und Position der Wiener Umweltanwaltschaft

Kritikpunkte

  • Die Abmessungen des Reaktordruckbehälters sind ähnlich wie beim WWER-440-Typ. Die Leistung ist etwa doppelt so hoch. Die 20-Zentimeter-Stahlwandung ist aufgrund der höheren Leistungsdichte einem höheren Neutronenfluss ausgesetzt. Dies kann zu einer rascheren Versprödung des Druckbehälters führen.
  • Die Anordnung eines Zwischengeschosses unter der hermetischen Zone im Containment ist sicherheitstechnisch problematisch. Sollte bei einer Kernschmelze geschmolzener, lavaartiger Brennstoff den Druckbehälter verlassen, ist ein Durchschmelzen der mächtigen Betondecken nicht auszuschließen. In diesem Fall wäre das Zwischengeschoss nicht ausreichend gegenüber der Umwelt abgeschlossen.
  • Hinsichtlich der Erdbebenauslegung muss der Standort Temelin noch genauer untersucht werden. Die Erdbeben-Aktivität in der Region ist zur Zeit niedrig. In der Nähe von Temelin (fünf und 13 Kilometer entfernt) laufen Bruchlinien vorbei, deren Alter und Entstehungsgeschichte nicht zur Gänze geklärt sind.
  • Die sogenannte 28,8-Meter-Bühne bezeichnet das Niveau in Bezug auf das bauliche 0-Niveau, wo die vier Heißdampfleitungen des Sekundärkreislaufs das Containment verlassen. Von dort werden sie zum angrenzenden Maschinenhaus und den Turbinen geführt. Diese Rohre sind teilweise sehr dicht beieinander geführt. Eine Wechselwirkung kann nicht ausgeschlossen werden. Beim Zerbersten einer Rohrleitung könnten die anderen mit beschädigt werden. In diesem Fall wäre eine Überhitzung des Reaktors mit Zerstörung der Brennelemente möglich.

Das KKW Temelin ist von Wien aus gesehen meteorologisch ungünstig gelegen. Häufig vorherrschende Westwinde können eine möglicherweise austretende Radioaktivität relativ rasch nach Ostösterreich und Wien verwehen. Gleiches gilt auch für das deutsche KKW Isar/Ohu

Position der Wiener Umweltanwaltschaft

Die im Rahmen des Melker Abkommens getroffenen Vereinbarungen sollten vom Land Wien und dem Bund so aktiv wie möglich genutzt werden. Die regelmäßige, im Bedarfsfall rechtzeitige, Information der Öffentlichkeit über den Status der Anlage Temelin und auftretende Unregelmäßigkeiten ist wichtig. Sie fördert Transparenz und das gegenseitige Vertrauen. Punkt drei des Abkommens zur Förderung Erneuerbarer Energien und dem sparsamen Umgang mit Ressourcen im Rahmen einer Energiepartnerschaft wird von Wiener Seite mit Nachdruck unterstützt. Die Sicherheitsuntersuchungen sind in manchen Bereichen noch nicht abgeschlossen, dennoch wurde nach mehreren Jahren intensiver Arbeit im Juni 2008 der Melker Prozess auch von der österreichischen Seite als beendet und weitgehend erfüllt erklärt. Es muss mit Nachdruck betont werden, dass dies nicht das Ende des Expertenaustausches zu wichtigen Sicherheitsfragen darstellt. Es wurde vereinbart, dass diese Fragen nun wieder im Rahmen der jährlich zumindestens zwei Mal angesetzten bilateralen Expertenrunden zwischen Tschechien und Österreich behandelt werden. Der Informationsfluss auf Expertenebene funktioniert inzwischen besser als noch zu Beginn der Sicherheitsdebatte, zumal die Debatt versachlicht werden konnte. Nach wie vor drängen österreichische Expert/innen auf die Freigabe von Daten, die von der tschechischen Seite unter der Argumentation der betrieblichen Geheimhaltung nicht preisgegeben werden. Viele Fragen können nur unter aktiver Mithilfe der tschechischen Seite behandelt werden. Es gilt hier vernünftige Kompromisse zu finden, die nicht zu Lasten der Sicherheit gehen dürfen.

Offene Fragen betreffen nach wie vor folgende Punkte:

  • Sprödbruchsicherheit des Reaktordruckbehälters. Im Falle einer Notkühlsituation wird relativ kühles Wasser in den fast 300 Grad Celsius heißen Reaktor eingespeist. Durch die schockartige Abkühlung kommt es im Stahlmantel des Druckbehälters (vor allem an Schweißnähten) zu enormen thermischen Spannungen. Im ungünstigsten Fall könnten sie zu einem Versagen des Werkstoffs führen. Wenn der Reaktor noch unter hohem Druck steht, könnte es zu einer Dampfexplosion mit Auswürfen von Kernbrennstoff ins Containment kommen. Es ist ungewiss, ob das Containment in diesem Fall eine Freisetzung in die Umwelt verhindern kann. Zur Abschätzung der Sprödbrucheigenschaften und der Sprödbruchübergangstemperatur werden weitere Parameter der Reaktordruckbehälter von Temelin 1 und 2 benötigt. Die Wiener Umweltanwaltschaft kritisiert, dass die Reaktorbeladung mit Brennstoff hinsichtlich der Neutronenversprödung für den Druckbehälter nicht optimiert wurde. Als positiv in Bezug auf die Reaktorbeladung ist zu bewerten, dass inzwischen Brennstoff aus russischer Produktion eingesetzt wird. Für diesen wurde der Reaktor konstruiert und mit dem US-Amerikanischen Westinghouse Brennstoff kam es teilweise zu dramatischen Verformungen desselben.
  • Trotz der erwartet niedrigen Erdbebenaktivität sollten Abschätzungen erfolgen, ob die Anlage hinreichend ausgelegt ist. Die Gesamtanlage kann Erdstöße mit einer horizontalen Beschleunigung von 0,1 g (Erbeschleunigung) aushalten. Möglicherweise ließe sich die Sicherheit durch verhältnismäßig geringe Investitionen auf 0,15 g anheben. Der Betreiber CEZ scheut sich jedoch davor.
  • Im WENRA-Bericht 2000 (Western European Nuclear Regulators Association-Report 2000) wird die Funktionssicherheit der Hauptdampf-Abblaseventile und der Sicherheits-Abblaseventile unter dynamischen Anforderungen mit einem Dampf-Wassergemisch bemängelt. Die erfolgten Tests an verkleinerten Modellen werden von der WUA als nicht ausreichend angesehen. Sie demonstrieren nicht die Funktionssicherheit. Die Ventile werden benötigt, um Leckagen zwischen Primär- und Sekundärkreislauf zu kontrollieren. Durch die Druckdifferenz zwischen Primär- und Sekundärkreis von zirka 70 bar kann radioaktives Inventar aus dem Reaktor über die Dampferzeuger und den Sekundärkreis aus dem Containment in die Umwelt gelangen.
  • Nach Ansicht der Wiener Umweltanwaltschaft geht von der dichten Zusammenführung von hochenergetischen Rohrverbindungen auf der 28,8-Meter-Bühne ein Risiko aus. Durch bauliche Veränderungen könnte dies entschärft werden. Die gewählte Minimallösung erscheint nicht ausreichend.
  • Als positiv ist die tschechische Bereitschaft anzusehen, ein schweres Unfallszenario mit massiver radioaktiver Freisetzung bei einer für Österreich extrem ungünstigen Wetterlage - trotz sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit - durch Simulation zu untersuchen. Österreichische wie tschechische Berechnungen der Situation stimmen hinsichtlich der Ergebnisse gut überein. Im Falle des Szenarios müssten zahlreiche Orte auch innerhalb Österreichs binnen weniger Tage evakuiert werden. Auch für Wien wären bedeutende radioaktive Niederschläge möglich. Die Stadt würde unbewohnbar werden.

Im WENRA-Bericht 2000 heißt es: "Nach der Lösung dieser Sachverhalte wird das KKW Temelin einen Sicherheitsstandard erreichen, der vergleichbar ist mit dem von betriebenen westlichen Druckwasserreaktoren". Die im Bericht erwähnten möglichen Schwachstellen betreffen vor allem die Druckbehälterversprödung, die Abblasventile und die Rohrleitungen auf der 28,8-Meter-Bühne. Die Wiener Umweltanwaltschaft meint, dass ein Kernkraftwerk, das nach dem jahr 2000 fertig gestellt wurde, einen höheren Sicherheitsstand aufweisen muss als bereits betriebene. Die anzulegenden Sicherheitskriterien werden vom KKW Temelin nicht nachvollziehbar erfüllt. Andererseits kann aus den zahlreichen Zwischenfällen im Kraftwerk nicht, wie zumeist von den Medien nahegelegt, geschlossen werden, dass es sich beim KKW Temelin um ein besonders unsicheres oder risikoreiches Kraftwerk handelt. Die zum Teil bewusst übertriebene Wortwahl wie etwa "erneut schwerer Unfall im Pannenreaktor" trägt von österreichischer Seite nicht zu einer substantiellen Verbesserung des grenzüberschreitenden Dialogs bei. In Hinblick auf die übliche Terminologie der INES-Skala ist die Wortwahl zudem oftmals falsch.

Die Wiener Umweltanwaltschaft tritt für eine kritische Risikoeinschätzung ein. Die Relationen zu anderen KKWs und Umweltrisiken insgesamt sollte aber gewahrt werden. Die Schwierigkeiten bei der Energiebereitstellung und dem auch in Österreich bei weitem zu hohen und immer weiter steigenden Energieverbrauch können nicht fälschlicherweise einem Kraftwerk angelastet werden. Sie sind in unserer Lebensart zu suchen. Die Entwicklung einer flächendeckenden ökologischen Energieerzeugung ist möglich. Sie stellt jedoch eine gewaltige Herausforderung in technologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht dar.

Die österreichische Politik verfolgte - vor allem unter der Regierung Schüssel - die Möglichkeiten der Einflussnahme, die durch den Melker Prozess bestehen, zum Teil nicht sehr engagiert. Dies wurde von der Öffentlichkeit wahrgenommen und negativ bewertet. Viele Österreicher/innen fühlten sich auch in diesem Zusammenhang nicht ausreichend repräsentiert. Sie suchten daher in der Vergangenheit nach eigenen Mitteln und Wegen, ihren Protest gegen Temelin zu artikulieren.

Temelin 3 und 4

Die jüngst wieder aufgenommene Debatte um die Errichtung der beiden Blöcke Temelin 3 und 4 wird von der WUA äußerst kritisch beurteilt. Die Tschechische Republik ist bezogen auf den Nettostromverbrauch der größte Stromexporteur der EU. Selbst wenn der Export aufgrund seitegenden Eigenbedarfs leicht rückläufig ist, scheint der Bedarf von zwei weiteren Grundlast produzierenden Reaktoren in Tschechien nicht gegeben. Der finanziell lukrative Export von Strom aus diesen beiden neuen Reaktoren würde auf Kosten nicht nur der österreichischen Sicherheit gehen. Österreich würde allerdings auch zu den möglichen Stromabnehmern gehören. Die WUA vertritt den Standpunkt, dass Energiesparen, Erhöhung der Effizienz und letzlich die Senkung des Verbrauchs dieseit und jenseits der Grenze der einzigeWeg für eine sozial und ökologisch nachhaltige Zukunft ist.

Vom tschechischen Energieunternehmen CEZ wurde am 11.7.2008 offiziell das Ansuchen um Durchführung einer UVP für den Ausbau des KKW Temelin beim Tschechischen Umweltministerium gestellt. Ein solches Verfahren erstreckt sich üblicherweise über mehrere Jahre und ist unabhängig von der tatsächlichen Bauentscheidung. Technische Details zum Anlagentyp und zu der Anzahl der Blöcke werden - solange der beantragte Leistungsbereich nicht überschritten wird - erst nach der UVP im Rahmen der kaufmännischen Ausschreibung festgelegt.

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